Viele Laien haben Angst, sich an der Börse zu engagieren. Sie scheuen das Risiko. Frage ich sie, was sie unter Risiko verstehen, bekomme ich Antworten wie: "Wenn eine Aktie um 50 Prozent einbricht, dann ist die Hälfte meines Geldes weg und ein anderer hat es. An der Börse kann man Haus und Hof verspielen." Zumindest der letzte Satz ist richtig, der erste grundfalsch. Wenn Sie eine Aktie kaufen, dann ist Ihr Geld sofort weg. Zu 100 Prozent. Denn Sie geben es jemandem, um damit eine Unternehmensbeteiligung zu erwerben. Die Frage ist also: Haben Sie vielleicht zu viel für diese Unternehmensbeteiligung bezahlt?
Die Portfoliotheorie von Harry Markowitz beruht auf einem Artikel, den der amerikanische Ökonom 1952 geschrieben hat. 1990 wurde er dafür mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt. Markowitz hat mathematisch hergeleitet, wie ein Portfolio beschaffen sein müsste, das möglichst wenig Schwankungen aufweist und dabei möglichst viel Ertrag abwirft. Phalanxen von Ökonomen tragen diese mathematische Rendite-Risiko-Optimierung seither wie ein Banner vor sich her. Richtiger wird sie dadurch nicht. Markowitz hat seine eigene Theorie nie angewandt - sein Aktienportfolio ist nach einer simplen 1/N-Heuristik strukturiert.
Laut Markowitz wären Aktien dann am wenigsten riskant, wenn sie am wenigsten volatil sind. Volatilität wiederum wird gemeinhin mit Schwankungsfreudigkeit gleichgesetzt. Demzufolge wäre eine permanent steigende Aktie am wenigsten volatil. Das kann man beispielsweise an den Volatilitäts-Indizes der CBOE oder der Deutschen Börse ablesen (VIX und V-Dax).
Praktisch könnten wir uns also eine Aktie suchen, die von 30 auf 100 gestiegen ist, diese kaufen und uns in Sicherheit wiegen. Denn mathematisch berechnet ist die Aktie wenig volatil, also wenig riskant. Ein schönes Beispiel ist die Aktie von Microsoft. Diese ist von einem Tief im Bereich von 15 Dollar vor neun Jahren auf ein Hoch von derzeit etwa 65 Dollar gestiegen.
Betrachten wir eine zweite Aktie, die der VF-Corporation. Das Unternehmen verkauft Textilien bekannter Marken, beispielsweise Vanity Fair, aber auch Northern Face, Schuhe von Timberland und viele andere. Die Aktie ist nach der Finanzkrise von unter 10 Dollar auf fast 78 Dollar im Jahre 2015 gestiegen. Bis dahin war die Aktie also - nach Markowitz - wenig riskant. Inzwischen hat sie zeitweise 38% ihres Kurses eingebüßt und notierte im Februar 2017 bei 48 Dollar. Nach Markowitz ist sie durch den 38%igen Kursverlust jetzt riskanter als vorher am Allzeithoch. Soweit die Theorie.
Verlassen wir die Theorie und benutzen wir den normalen Verstand eines Zehnklassenschülers. Die erste Frage muss doch lauten: Was kaufe ich da eigentlich? Ich erwerbe mit einer Aktie einen Anteil am Unternehmen, also an Microsoft oder der VF Corporation. Dieses Unternehmen hat einen Wert, der sich anhand von Bilanzen, Gewinn-und-Verlustrechnung und Cashflow-Statement feststellen lässt. Man kann ihn nach verschiedenen Modellen berechnen. Es gibt Schätzungen des Managements und von Branchenexperten über die zukünftige Gewinnentwicklung, in früheren Zeiten hätte man das in der DDR salopp den "Fünf-Jahr-Plan" genannt. Wenn ich also eine Aktie kaufe, dann erwerbe ich einen Unternehmensanteil wegen der Gewinne, die das Unternehmen (hoffentlich) in Zukunft erwirtschaftet. An denen will ich als Unternehmer nämlich partizipieren.
Genau hier setzt das Börsen-Vodoo ein. Wo sehen wir in den oben abgebildeten Charts den Gewinn? Nirgends. Das reelle Unternehmen mit seinen Gewinnen und der Aktienkurs korrelieren miteinander, zweifellos. Aber sie sind über ein kilometerlanges Gummiband miteinander verbunden (Kostolany). Der Vater des Value-Investing, Benjamin Graham, hat diese Korrelation so beschrieben: "Der Wert ist, was Du bekommst. Der Preis ist, was Du zahlst." Ich kann an einem Chart zwar Kaufpreise ablesen, aber keinen Wert. Bei einem Gebrauchtwagenhändler versteht das jeder. Bei Aktien ist es genau so.
Zweiter Vodoo-Punkt: Analysten, die Gewinnschätzungen abgeben, liegen entgegen landläufiger Vorurteile häufig auf Sicht von ein bis zwei Jahren sehr dicht bei der Wahrheit. Das war für mich selbst eine überraschende Erkenntnis.
Falsch liegen die Analysten, die Kursprognosen ableiten. Diese Spezies von Analysten nennt der Fachmann "Sell-Side-Analysten", also Analysten, die für Banken arbeiten und dem tumben Investor vorgaukeln, sie könnten Börsenkurse vorhersehen. Sie wiegen den Laien in Sicherheit, weil Sie Kursziele ausrufen, etwa "TESLA steigt noch 2017 auf 400 Dollar." Klar, dass der Anleger darauf anspringt, denn nichts ist schlimmer, als kein Geld mit einer Aktie zu verdienen, die ja steigen MUSS. Dabei möchte der Analyst nur für sein Bankhaus (oder den Investmentfonds, den "Broker", die Wertpapierbank usw.) eine Kommission generieren, mit der er seine Existenz rechtfertigt und seinen Job sichert. Er will also verkaufen - daher der Name. Am besten macht er 500 Prognosen im Jahr, dann sollten nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung 50% davon tendenziell richtig sein. Und fünf, zehn oder vielleicht sogar mehr treffen hundertprozentig ein.
Um auf Microsoft und VFC zurückzukommen: Wer VFC vor zwei Jahren bei 77 Dollar gekauft hat, hat 77 Dollar riskiert. Heute wissen wir, dass das ein schlechtes Geschäft war. Wer heute VFC bei 50 Dollar kauft, riskiert 50 Dollar. Meiner Meinung nach ist 50 Dollar Risiko weniger als 77 Dollar Risiko. Nach Markowitz ist es umgekehrt.
Volatilität definiere ich daher als "Angst". Das ist mathematisch und wirtschaftstheoretisch nicht korrekt, dessen bin ich mir bewusst. Aber Angst ist auch bei Markowitz nicht vorgesehen, denn bei ihm investiert ein "Homo Oeconomicus". In der realen Welt besteht der Markt aber aus nur bedingt rational handelnden Individuen. Genau diese Ineffizienz des Marktes - die reelle, aber irrationale Angst oder Panik - macht sich der clevere Investor zunutze. Wie Baron Rothschild seinerzeit sinngemäß sagte: "Kaufe Aktien, wenn in den Straßen Blut fließt und Kanonen donnern." Auf die heutige Börse paraphrasiert klingt Rothschild etwas zivilisierter und reimt sich sogar.
"When VIX is low, go slow.
When VIX is high, it's safe to buy."
Zu deutsch sinngemäß: Ist der VIX (der amerikanische Volatilitätsindex) niedrig, sei vorsichtig. Ist der VIX hoch, geh einkaufen." Erkennen Sie jetzt, warum ich eine Microsoft-Aktie noch nicht gekauft habe, obwohl das Unternehmen toll aufgestellt ist? Ich möchte sie nach dem nächsten Kursrutsch. Und wenn es noch Monate oder Jahre dauert, dann muss ich halt warten. Erkennen Sie, warum ich eine VFC gekauft habe, obwohl (oder gerade weil) das Unternehmen derzeit eine schwierige Phase durchlebt? Das ist übrigens keine Empfehlung - der Aktienkurs kann bis auf Null fallen. Nur ist die Fallhöhe jetzt geringer als vor zwei Jahren. Und damit mein Risiko.
Viel spannender jedoch: Erkennen Sie das Risiko der derzeitigen Märkte?
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Alfred (Donnerstag, 02 März 2017 17:13)
Hallo Nils,
dem gibt es nichts hinzuzufügen. Die einzig reelle Möglichkeit, ein Investment-Portfolio abzusichern, ist eine sinnvolle Diversifikation mit ausgesuchten Aktien gesunder Unternehmen über mehrere Sektoren (und Märkte). Wenn man sehr konservativ und nur auf die Dividenden ausgerichtet ist, kann man noch versuchen, das Beta des Portfolios auf annähernd 0 zu halten. Wenn die Einstiege dann wie von Dir beschrieben, nach Rücksetzern erfolgen, kann man mit einem solchen Portfolio auch ruhig schlafen.
Viele Grüße, Alfred
Bernhard K. (Sonntag, 05 März 2017 16:21)
Sehr schön erklärt. Man braucht keine "Raketenwissenschaft" um zu investieren. Gesunder Menschenverstand hilft schon sehr.